Definition

Inzwischen gibt es eine Vielzahl an Definitionen für den Begriff "Pflegeassessment". Das Problem daran ist, dass Definitionen immer auch eine Eingrenzung darstellen. Wenn nicht deutlich gemacht wird, dass dies eine von vielen möglichen (persönlichen) Sichtweisen ist, dann ist dies für die Entwicklung einer recht neuen Wissensschaft wie der Pflegewissenschaft eher schädlich. Um den Diskurs über die „geeignete“ Definition in Gang zu halten, bedarf es daher einer Arbeitsdefinition. Arbeitsdefinitionen sind vorläufig, wandelbar und stecken nur einen ersten, eher weiten Rahmen ab (vgl. Seiffert, 2004*). Inmitten der vielen Definitionen des Begriffs Pflegeassessment stellt die folgende Arbeitsdefinition, einen kleinsten gemeinsamen Nenner dar:
Pflegeassessment ist die Einschätzung pflegerelevanter Variablen und Phänomene zum Zweck der Bewertung und/oder der nachfolgenden Handlungsinitiierung.
Die in dieser Arbeitsdefiniton verwendeten Begriffe sind erklärungsbedürftig:

Einschätzung:

In einem weiteren Sinne beinhaltet diese „Einschätzung“ jede Art eines wertenden Urteils, im engeren Sinne wird Einschätzung als Quantifizierung mittels Skalen, Tests oder anderen Messinstrumenten verstanden. Die erweiterte Sichtweise lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen:

Eine erfahrene Gesundheits- und Krankenpflegerin betritt ein Patientenzimmer, sieht den beatmeten Patienten und erschließt – ohne die Verwendung einer Schmerzskala -, dass der Patient Schmerzen hat. Hierfür werden Mimik und Gestik herangezogen, die aufgrund der gereiften Expertise zu dem Urteil führen: „Der Patient hat Schmerzen“.

Diese Einschätzung leitet dann entsprechende schmerzstillende Maßnahmen ein, ist also handlungsrelevant und vermutlich auch effizient, da die Einschätzung den tatsächlichen Zustand abgebildet.

Die intuitive Einschätzung ist also genauso handlungsrelevant wie die Nutzung von entsprechenden Assessment-Skalen (z.B. der Doloplus-Skala zur Schmerzmessung). Ob diese intutive Einschätzung besser ist als eine Assessment-Skala, muss anhand der Gütekriterien bestimmt werden. Leider fehlt es in der Pflegewissenschaft an einer solchen vergleichenden Prüfung der Nützlichkeit. Weiterhin ist es an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass sich idealer weise Assessment-Instrumente und eine ganzheitliche Einschätzung ergänzen sollten:

Der Einsatz von Assessment-Instrumenten kann hermeneutische Kompetenz nicht ersetzen, sondern nur ergänzen!
Im engeren Sinne wird unter „Einschätzung“ eine Messung verstanden. Beide Begriffe, „Schätzung“ und „Messung“, machen schon deutlich, dass es um Quantifizierung geht. Pflegebezogene Variablen sollen in Zahlen überführt werden. Im Sinne der Messtheorie wird Messen, als die Überführung eines empirischen Relativs (z.B. Mobilität) in ein numerisches Relativ (z.B. Zahl 3 auf einer Skala von 1 bis 5) verstanden. Diese Überführung erfolgt nach bestimmten Regeln (Welcher Zustand soll welchem Zahlenwerten zugeordnet werden?). Grundlage für die Zahlenzuordnung sind aber selbst wieder Einschätzungen. So gesehen führt kein Weg an einer Beobachtung vorbei. Beobachtung ist aber mehr als Krankenbeobachtung. Beobachtung kann auch Gesundenbeobachtung, Organisationsbeobachtung oder Interaktionsbeobachtung sein. Hier wird deutlich, dass eine enge Assessment-Definition auch Auswirkungen auf benachbarte Konzepte hat. Anders ausgedrückt: Im Sinne der erweiterten Nutzung des Assessmentbegriffs, muss auch eine Ausweitung des Beobachtungsbegriffes in der Pflege vorgenommen werden!

Der Vorteil einer Quantifizierung ist die Vergleichbarkeit von Daten, die Darstellbarkeit von Verläufen und die leichtere Vermittelbarkeit der Ergebnisse im Gegensatz zur rein qualitative Einschätzungen. So ist auch für rechtliche Fragestellungen wichtig, dass pflegerische Maßnahmen und deren "Dosierung" nicht nur aufgrund durch die Erfahrung begründet sind, sondern auch in Zahlenwerten darstellbar sind. Werden die gemessenen Variablen und Phänomenen Kategorien zugeordnet, dann kann auch von Diagnostik gesprochen werden.
Die Begriffe Diagnostik, Messen und Assessment weisen viele Gemeinsamkeiten auf.
Es ist für die Entwicklung von Assessment-Instrumenten und deren Bewertung von hoher Wichtigkeit, dass neben den Gütekriterien auch geprüft wird, welchen Mehrwert die Anwendung entsprechender Assessmentinstrumenten gegenüber der intuitiven Erfassung oder der Krankenbeobachtung hat. Dies ist auch wichtig, um den Einsatz in der Praxis zu begründen (siehe Ökonomie unter Gütekriterien). Zur Einordnung des Nutzens gehört auch die Einschätzung der Handlungsrelevanz: Welchen Nutzen hat ein Assessment?
Ein Assessment-Instrument ohne praktische Konsequenzen ist ein schlechtes Assessment-Instrument.

Pflegerelevante Variablen und Phänomene:

Messungen findet man auch in anderen Wissenschaftsbereichen. Beim Pflegeassessment geht es um die Erfassung pflegerelevanter Aspekte. Der Aspekt ?Relevanz? deutet schon darauf hin, dass die Ergebnisse des Assessments irgendwie für die Pflege bedeutungsvoll sind, am besten eben handlungsrelevant. Es sind natürlich nur solche Aspekte wichtig, die auch veränderbar, also variabel sind. Im Forschungsjargon wird deshalb von Variablen gesprochen.
Die Eingrenzung auf pflegerelevante Verfahren hängt vom Berufsverständnis und der zugrunde- liegenden Pflegetheorie ab. Da es viele Überschneidungen der Verantwortlichkeiten gibt, sollte eine Gliederung von Assessmentinstrumenten eher anhand von Zielvariablen vorgenommen werden. So liegt z.B. je nach Einrichtung das geriatrische Assessment in der Verantwortung von Pflegenden, Ärzten, Gerontologen, Pädagogen oder Psychologen.
Dennoch gibt es Kernbereiche, die bevorzugt im Verantwortungsbereich von Pflegenden liegen. Hierzu zählen beispielsweise die vielen Assessmentskalen zur Riskoabschätzung (z.B. zum Dekubitusrisko). Im amerikanischen Raum wird von "health care instruments" gesprochen, ohne dass damit schon etwas über die anwendende Berufsgruppe gesagt wird. Aus Sicht eines kooperierenden Teams ist dieser Begriff sicher sinnvoller. Weiterhin ist eine Unterscheidung zwischen "pflegebezogenen" und "pflegerelevanten" Variablen wichtig. Pflegebezogene Assessment-Verfahren müssen nicht zwingend Konsequenzen im Sinne pflegerischer Maßnahmen nach sich ziehen, können aber dennoch zum Aufgaben- und Wissensfeld der Pflegenden gehören.

Aus professionstheoretischer Sicht ist bisher unzureichend geklärt, wer die Durchführungs-, Nutzungs- und Verwertungsverantwortung des Pflegeassessments bzw. der dadurch gewonnen Erkenntnisse hat.

Bewertung:

In dem Begriff Bewerten steckt schon das Wort "Wert". Man kann einen Patientenzustand im einfachsten Sinne als "gut" oder als "schlecht" bewerten. Assessment-Instrumente ermöglichen jedoch eine differenziertere Bewertung.
Sie sind differenzierter, weil sie auf sehr spezielle Variablen bezogen sind. Also beispielsweise auf die Hautfarbe statt auf den generellen Zustand des Patienten. Außerdem sind die Bewertungen meist mehrfach gestuft (z.B. "sehr schlecht", "schlecht", "mittelmäßig", "gut", "sehr gut").
Nachdem zunächst bei den meisten Assessment-Instrumenten eine differenzierte Beurteilung erfolgt ist, werden die Werte der einzelnen Facetten zu einem Gesamtwert (Gesamtscore) oder mehreren Subwerten zusammengefasst. Dieser ermöglicht dann die Ableitung entsprechender Handlungen (z.B. Prophylaxen).
Die Zusammenfassung von Items kann entweder aufgrund theoretischer Erwägungen erfolgen oder aber aufgrund statistischer Methoden (z.B. Faktorenanalyse).

Die Quantifizierung von Pflegephänomen in einem Forschungsfeld, das sonst durch qualitative Methode bestimmt ist, stellt eine besondere Herausforderung dar: Zum einen für die Begründung des Einsatzes im Felde (pflegerische Expertise vs. assessmentbasiertes Handeln), zum anderen wegen des Entwicklungsstandes methodischer Kompetenzen, für die heute die Bestimmung von Reliabilität und Validität nicht mehr ausreicht.

Handlungsrelevanz:

Pflegemaßnahmen orientieren sich immer am Zustand des Patienten und um diesen einzuschätzen, wurde schon immer eine Bewertung, also letztlich ein Assessment - in dem oben genannten erweiterten Sinne - durchgeführt. Solche Bewertungen sind jedoch auch Verzerrungen unterworfen. So kann es vorkommen, dass die Bewertung einer Person, nicht zur Bewertung der anderen Person passt. Um hier eine Passung zu erreichen, ermöglichen Assessment-Instrumente die Zuordnung von Zahlen anhand klarer Kriterien. Diese Bewertungen oder Urteile sollen (wenn es sich um pflegerelevante Methoden handelt) auch in der Pflege genutzt werden.

Nicht jedes Assessment muss aber auch handlungsrelevant sein. So dient beispielsweise im wissenschaftlichen Kontext das Assessment auch nur zur Operationalisierung relevanter Variablen, ohne dass es hierdurch unmittelbar zu Veränderungen kommt.
Weiterhin gibt es Assessment-Verfahren, die zur Verlaufskontrolle gedacht sind und erst bei Überschreiten eines kritischen Wertes Handlungen notwendig machen. Daher wäre es besser von potentieller Handlungsrelevanz zu sprechen.

Weiterhin ist zwischen theoretischer Handlungsrelevanz und tatsächlicher oder subjektiver Handlungsrelevanz zu unterscheiden. Nicht jedes Assessmentinstrument, das aus pflegewissenschaftlicher Sichtweise sinnvoll und handlungsrelevant ist, ist dies aus auch Sicht der Pflegenden. Die Handlungsrelevanz und damit auch die Implementierung von Assessment-Instrumenten muss daher ausgehend vom Wissensstand der Pflegenden, sowie der Verantwortlichkeit und dem Handlungsspielraum in einer Einrichtung bestimmt werden. Was als Schreibtisch-Diagnostik und was als Patientendiagnostik wahrgenommen wird, kann je nach Krankenhaus und Pflegeperson ganz unterschiedlich sein.

Wieso sollten nun Assessment-Instrumente in der Pflege eingesetzt werden?

  • Assessment-Instrumente strukturieren und systematisieren die Erfassung des Ist-Zustandes, der im Sinne des pflegerischen Problemkreises immer am Anfang steht.
  • Die Messungen sind nicht Selbstzweck oder notwendiges Übel, sondern leiten das weitere pflegerische Vorgehen, d.h. Assessment-Instrumente sind die Grundlage pflegerischen Handelns. Sie bestimmen die Art und die Qualität der pflegerischen Maßnahmen, da sie zur Bedarfserhebung dienen.
  • Weiterhin hat die Erhebung rechtliche Gründe. Wenn Handeln durch Messungen initiiert wird, dann kann deutlich gemacht werden warum gehandelt bzw. nicht gehandelt wurde. Die Argumentation ähnelt hierbei der rechtlichen Begründung der Pflegedokumentation /Pflegeplanung.
  • Da die Ressourcen im Gesundheitssektor beschränkt sind, kommt es in der Pflege immer wieder zu konkurrierenden Handlungsaufforderungen. Beruflich Pflegende sind dabei mit folgenden Fragen konfrontiert: Was ist wichtig? Was ist am wichtigsten? Wo besteht dringender Handlungsbedarf? Assessment-Instrumente können hierbei eine Hilfe sein, da sie die Prioritätensetzung erleichtern. Letztlich besitzen sie damit auch eine Steuerungsfunktion.

* Seiffert, H. (2004). Einführung in die Wissenschaftstheorie. München: Beck.

Stand: 01.08.2006 by. B.R.